Käthe Kollwitz Preis 2022: Nan Goldin
Akademie der Künste
19.1.2023, 19:00 Uhr
I’ll be your Mirror titelte die erste Retrospektive Nan Goldins, die im Whitney Museum of Amercian Art 1996 eröffnete und im Anschluss in Europa tourte. Ein toller Titel. Mit dem gleichnamigen Song von Velvet Underground und Nico im Ohr führt er atmosphärisch direkt in die queere Subkultur und Avantgarde New Yorks. Hier fand sich nach ersten Jahren in Boston, in denen sie in ihrer Arbeit The Other Side bereits eines ihrer großen Themen gefunden hatte, in den späten 1970er und frühen 80er Jahren auch Nan Goldin als Teil der Bowery Neighborhood und als Fotografin wieder. So glamourös dieser Moment klingt – und sicher war: Die Bowery ist in dieser Zeit auch untrennbar verbunden mit Gewalt, Tod, Drogenkonsum und der sehr bald beginnenden AIDS-Epidemie – Themen, auf die die Politik keine Antwort fand, Themen, die Nan Goldins Werk bis heute bestimmen (egal, wohin sie ihr späteres Leben noch führen sollte) und Themen, von denen sie auch selbst betroffen sein sollte, direkt oder indirekt.
I’ll be Your Mirror blickte damals auf 25 Jahre künstlerisches Schaffen zurück. Inzwischen sind gut weitere 25 Jahre vergangen, und erstaunlicherweise lässt sich I’ll be your Mirror genauso gut in die Gegenwart weiterdenken und auf die Arbeiten, die seither entstanden sind, anwenden. Denn das, was das Werk von Nan Goldin von den Anfängen bis in die Gegenwart begleitet, ist eine Form der unmittelbaren Präsenz – wie sie nur ein Spiegel wiederzugeben vermag. Und damit spiele ich nicht auf die Fotografie als ein abbildendes Medium an.
Nein: Jede und jeder von uns kennt diesen Moment, wenn wir in den Spiegel blicken: Der Blick auf uns selbst erscheint uns zuweilen fremd: Das bin nicht ich. Bin ich das? Aber es gibt keinen Zweifel: Wir sind es, ganz klar. Mit I’ll be your Mirror klingt Nan Goldins künstlerisches Programm an, für das sie die Fotografie wählte, obwohl – wie zu zeigen sein wird – es weit darüber hinaus weist. Es geht ihr um ihr Gegenüber, dem sie sich bedingungslos verschreibt und in einer Form der bis dahin nicht gesehenen Direktheit emphatisch zuwendet. Um diese Nähe greifen zu können, liegt der Begriff Schnappschuss nahe – obwohl er der formalen Stringenz des Werkes überhaupt nicht gerecht wird. Ich verwende ihn, weil er Goldin selbst zuweilen als sprachliche Krücke diente und sie ihn als ein Mittel charakterisierte, um einer spontan empfundenen Liebe zum Gesehenen – der Liebe zu ihrer (selbstgewählten) Family / Community – Raum zu geben. Es geht also um eine Fotografie ohne vordergründiges Staging, ohne Setting, vielleicht sogar zunächst ohne Plan, unmittelbar und ungeschönt – ganz so, als würden wir blind auf einem Spiegel zugehen und uns in ihm (nicht selten erschrocken) für einen kurzen Moment selbst – und noch viel mehr, unsere andere, nicht kontrollierte, nicht scharf gestellte Seite – sehen. In der Konsequenz bedeutet das aber auch für die Fotografin, keine “gläserne Wand” aufzubauen, sondern sich zu involvieren, Teil zu sein von dem, was ist. Ohne ihre formale Könnerschaft schmälern zu wollen, zeigt sich Nan Goldin nicht als kühle Analytikerin der Situation, die in Distanz zu ihren Protagonist*innen geht und zu “gerade gerückten” Bildern kommt, wie es den damals gängigen Vorstellungen zB eines dokumentarfotografischen Ansatzes entsprach. Sie unterwandert dieses Programm – denn sie ist Gleiche unter Gleichen. Und diese Gleichen sind uns oft die Anderen. Darin liegt der Schockmoment, den ihre Bildwelt begleitet, die von Schmerz und Schönheit gleichermaßen durchzogen ist. Ihr Zugang zur Wirklichkeit, so wie sie ihn in der Zeit seit den frühen 1970er Jahren entwickelte, trotzt jeder bis dahin geltenden Übereinkunft über “das gute Bild” und jedem Konformismus. Sie schreibt sich anders, viel direkter in ihre Bilder ein – indem sie einfach immer auch da ist, ob sie nun im Bild ist (was oft der Fall ist) oder nicht. Damit macht sie sich angreifbar. Denn anderen auf Augenhöhe zu begegnen und deren Untiefen zu spiegeln, bedeutet auch, sich selbst zu offenbaren: Und auch wenn sie – genau wie die Menschen, die sie fotografiert – oftmals als stolze, schöne und unerschütterliche Frau in ihren Bildern aufscheint, so schreckt sie nicht davor zurück, auch ihre Entgleisungen, Wunden und emotionalen Verstrickungen in komplizierte Beziehungen zu zeigen. Um es zuzuspitzen: Sie ist eine Frau in einer nicht nur damals männerdominierten Kunstwelt, die sich erlaubt, sich unterschiedslos zu ihren Protagonist*innen in ihre Bilder einzureihen und von sich zu erzählen – auch mit blauem Auge und rotem Lippenstift.
Die Rezeption des Werkes ist von Spannungen durchzogen. Es produzierte ungemeinen Widerspruch. Mir sind Erzählungen von Zeitzeuginnen in Erinnerung – und Nan Goldin berichtet selbst in diversen Interviews darüber –, dass bis in die 1990er Jahre hinein Vorführungen ihrer heute ikonischen Slideshow The Ballad of Sexual Dependency in den Institutionen Verstörung, Unmut und sogar Handgreiflichkeiten provozierte (vor denen sie übrigens niemand – auch nicht ihre Gastgeber – schützte). Genauso dominiert die Erzählungen die uneingeschränkte Bewunderung für das Werk. Es steht für eine radikalen Erneuerung der Fotografie und hatte enormen Einfluss auf eine jüngere Generation von Künstler*innen. Plötzlich war ein fotografischer Zugang möglich, mit dem die Sichtbarmachung des eigenen Umfelds und vor allem die Darstellung von Intimität und Sexualität würdig wurden, bildnerisch festgehalten zu werden. Und so erscheint heute, im Blick zurück auf Nan Goldins Fotografien der 1970er und 80er Jahre – und das gehört zu meiner eigenen Verstörung – ihr Werk zunächst gar nicht so radikal, wie es damals aber offenkundig war. Dazu hilft zu wissen, dass die Bilder sehr schnell sehr populär wurden. Die erste Ausgabe des Buches zur Ballad of Sexual Dependency erschien 1986 bei Aperture. Nur ein Jahr später erschien es in Deutschland im Verlag Zweitausendeins in hoher Auflage, was enorm zu ihrer Popularisierung beitrug. Bis heute gibt es soweit ich weiß 21 Auflagen von der Ballad, was angesichts eines angespannten Fotobuchmarktes nahezu unfassbar klingt. Aber diese Erfolgsgeschichte macht deutlich, dass sich der Stil, den sich Nan Goldin erlaubte, sehr schnell ins allgemeine Bildgedächtnis eingrub und zunehmend selbstverständlich wurde. Der Künstler Tobias Zielony meinte kürzlich zu mir, dass ein Grund dafür auch darin liegen könnte, dass die Bildsprache von Nan Goldin den eigenen Vorstellungen von Intimität und Sexualität (oder wie sie darstellbar sein könnte) plötzlich nahe kommt. Das bedeutet nicht, dass die Radikalität, die aber im Werk mitschwingt, blind adaptiert wurde oder werden konnte – und zwar nicht nur, weil die Kontexte des eigenen Lebens sich von denen Nan Goldins selbstverständlich unterscheiden, die Gewalt, Sucht, toxische Paarbeziehungen, Verlust und Tod genauso mit einschließen wie ein Ausleben von Sexualität jenseits von Heteronormativität und ein Aufgehoben-Sein in einer eigenen Community, die sie überall findet, wohin sich sich bewegen sollte – Stichwort Berlin, Paris, Japan. Nein – um solche Bilder vorzulegen, wie sie auch hier in der Ausstellung zu sehen sind und die (von The Other Side bis Memory Lost) einen Zeitraum von fast 50 Jahren umfassen, braucht es nicht nur formale Könnerschaft und Beherrschung des Mediums, sondern – so stelle ich es mir vor – auch eine unglaubliche Kraft und auch einen politischen Willen der Sichtbarmachung dessen, was lange gesellschaftlich geächtet war und in vielen Teilen der Welt immer noch ist. Denn das Werk von Nan Goldin ist nicht nur ein fotografisches Werk, sondern auch das Werk einer Aktivistin, zu der sie nicht erst in den letzten Jahren mit der Gründung und ihrem Engagement innerhalb der Gruppe PAIN wurde, mit der sie ihre Stimme gegen den Pharmakonzern Purdue erhob und mit zahlreichen Aktionen bzw. Die-Ins in den großen Museen der Welt auf die gegenwärtigen Opiodkrise in den USA aufmerksam machte und damit – auch als Betroffene – maßgeblich dazu beitrug, dass sich die von der Opiod-Epidemie profitierende Sackler Family heute nicht mehr mit ihren Spendengeldern an die großen Museen vom unsauberen Promoting ihrer Sucht-gefährdenden Schmerzmittel reinwaschen kann.
Nein, ich glaube, dass wir erst heute und vielleicht auch vor dem Hintergrund ihrer jüngsten politischen Erfolge genauer verstehen können, dass Nan Goldins Bilder von Beginn an Ausdruck ihres auch aktivistischen Selbstverständnisses sind. Das macht es auch unmöglich, Werk und Biographie der Künstlerin voneinander zu trennen. Oftmals ist über ihre Arbeit zu lesen, dass sie mit ihren Bildern zuhäuslicher Gewalt, einer verfehlten Drogenpolitik und zu AIDS Stellung bezieht. Oder der queeren Community ein Gesicht gibt. Das ist sicher richtig und ein Kern. Doch wenn man auf ihre künstlerischen Anfänge zurückblickt oder speziell auf ihre New Yorker Zeit, dann wird schnell deutlich, dass das öffentliche Vorführen etwa ihrer Slideshow von The Ballad ein genauso wesentlicher Bestandteil ihrer Praxis war wie auch das konstante das Editieren und Re-Editieren ihres fotografischen Materials. Die Grids in dieser Ausstellung – Tableaus, auf denen dem Bilder aus unterschiedlichen Zeiten und Kontexten zusammenkommen – sind dafür ein treffendes Beispiel. Ich frage mich also, ob ihr in immer neuen Konstellationen vorgeführtes Werk nicht auch als eine Art performative Geste verstanden werden kann, und ob es nicht wesentlich sein muss darauf hinzuweisen, dass Nan Goldin für ihre Bilder immer wieder neue Kontexte des Erscheinens generiert. Die Arbeit kommt mir vor wie eine immer wieder neu aktualisierte Version einer durchgängigen und/oder aktuellen Haltung und Empfindung zur Welt. So zeigt diese Ausstellung gerade nicht etwas, was “historisch” geworden ist oder für eine bestimmte Zeit steht und darin ihren Abschluss gefunden hat. Vielmehr geht es um eine immer wieder eigens empfundene Dringlichkeit. Und daher erkennen wir in den Bildern nicht Vergangenes (den unwiederbringlichen fotografischen Moment, der nicht mehr zurückgeholt werden kann), sondern stets auch etwas von unseren Fragen an die Gegenwart, schließen mit ihnen an an aktuelle gesellschaftliche, politische Diskurse, sehen Veränderung, sehen Fortbestehendes.
I’ll be your Mirror – Nan Goldin hatte recht. Sie und ihre Arbeit ist immer noch – auch nach 50 Jahren künstlerischen Wirkens – uns ein Spiegel. Und sie wird es auch in Zukunft sein.