Maren Lübbke-Tidow im Gespräch mit Özlem Altın anlässlich des Erscheinens von Prisma, DISTANZ: Berlin 2024.
Berlinische Galerie, Berlin
12.10.2024, 15:00 Uhr
![](http://marenluebbketidow.com/wp-content/uploads/2024/02/Bildschirmfoto-2024-06-02-um-13.33.55-721x1024.jpg)
Özlem Altın, Detail aus: Naked Eye, 2024.
“Özlem Altın, Prisma”, Book Launch and Artist Talk, Berlinische Galerie, 12.10.2024, 15:00 Uhr
“was zwischen uns steht. Fotografie als Medium der Chronik”, EMOP Berlin – European Month of Photography, Zentrale Festivalausstellung. Akademie der Künste (Hanseatenweg), Berlin, 28.2. – 4.52025 (festival exhibition, upcoming)
“Hans Hansen. Das Unbekannte – oder das Neueste und Modernste?”, in: Hans Hansen, analog, Spector Books: Leipzig 2024 (essay, dt./en.)
“In meinem Körper ist Leistung gut aufgehoben. Zur Installation Liquid Company von Luise Marchand”, in: Eikon – International Magazine for Photography and Media Art(Wien), Nr. 127/2024 (essay, dt/en)
Mentoring im Rahmen des Mentoring-Programms 2023/24 der Universität für Angewandte Kunst,Wien
Özlem Altın, Detail aus: Naked Eye, 2024.
“Der Chronist, welcher die Ereignisse hererzählt, ohne große und kleine zu unterscheiden, trägt damit der Wahrheit Rechnung, daß nichts, was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben ist.”
(Walter Benjamin)
Würde Walter Benjamin diesen Satz aus seinen fragmentarisch gebliebenen Thesen Über den Begriff der Geschichte auch heute noch so aufschreiben? Eine ganze Generation von Chronisten dokumentiert in ihren Timelines und Newsfeeds unentwegt ihre Stories. Mehr denn je sind wir von Bildern und Texten umgeben, von Kommentarleisten, Filmschnipseln und von Fotografien im Zeitalter ihrer KI-gestützten Reproduzierbarkeit. Zeitgeschehnisse werden mit ihnen genauso dokumentiert wie persönliche Befindlichkeiten. Die „veränderungserschöpfte“ und von Krisen geschüttelte Gesellschaft (Steffen Mau) reagiert emotionalisiert und gespalten.
Es wächst das Bedürfnis, genau dem etwas entgegenzusetzen und – angesichts der Brüchigkeit von Demokratien, dem Erodieren ihres Fundaments, von Umweltzerstörung und wachsender Gewalt, von Ausgrenzung und gesellschaftlicher Desintegration – dem Zersetzenden der Gegenwart etwas Konstruktives entgegenzuhalten. Doch was kann mit Bildern, zumal mit fotografischen, tatsächlich noch gewusst, belegt oder gesagt werden angesichts eines gänzlich anderen Produktions- und Rezeptionsverhalten? Sind es nicht gerade die Bilder, die Gräben vertiefen, die zum Medium des „fake“ werden und polarisieren, kurz, die zwischen uns stehen?
was zwischen uns steht unternimmt den Versuch, den Kreislauf der permanenten Selbstvergewisserung zu unterbrechen und das fotografische Bild als Medium der Chronik wieder neu zu verhandeln. Sie hält an dem Anspruch fest, dass fotografische Bilder einen Berührungspunkt mit der Realität markieren – und mag er noch so schemenhaft sein – und also Wissen transportieren.
Projekte von rund 20 Künstler*innen verleihen dem Gegenüber mittels der eigenen Stimme Resonanz. Sie stehen für ein „Verstehen vom Anderen“ (Emmanuel Levinas) – nicht als alles übertönende Lautsprecher, sondern in der Reflexion darüber, wie jenseits von Schemata der Vereindeutigung differenziert und, ja, zart erzählt werden kann. Wenn „eine kleine Dokumentation aus verstreuten und schwer zugänglichen Quellen (…) schließlich Resultate erbringen (kann)“ (Carlo Ginzburg), können die Erfahrungen anderer verstehbar und vorstellbar sein, selbst wenn sie sich aus nichts als einem Haufen von Bruchstücken und ihren jeweiligen Kontexten zusammenfügen. So arbeitet die Ausstellung Wahrheiten heraus und bringt sie zum Sprechen. Sie erzählt, statt Gewissheiten auszustellen. Denn zu erzählen, auch in Bildern, ist „in der Form etwas anderes, als etwas zu fordern“, ist „etwas anderes, als etwas einzuklagen, etwas zu erzählen, ist fragiler, als etwas anzukündigen.“ (Carolin Emcke).
was zwischen uns steht thematisiert den Zusammenhang von sozialer Klassifikation und Bildungschancen. Sie transportiert Erfahrungen von Krieg, Flucht und Exil, von Arbeitsmigration und Ausgrenzungserfahrung, von der Situation der unmittelbaren Nachwendezeit oder der Radikalisierung von Teilen der Gesellschaft. Nicht zuletzt sind es Themen wie der Krieg Russlands gegen die Ukraine und der Krieg in Nahost, die in den Beiträgen nicht in Behauptungen, sondern in kritischer Distanz fragend und erzählend bearbeitet werden.
Dass der eigene Begriff von Geschichte eine entscheidende Rolle im Blick auf die Gegenwart spielt, wird in der Ausstellung in Bildern deutlich, in denen die Vergangenheit in der Gegenwart aufblitzt und Momente des Erkennens kreiert. Dann zeigt sich ihr wiederständiges Potenzial, das immer auch ein utopisches Potenzial ist. Vor diesem Hintergrund ist umso bereichernder, dass die ausgestellten Werke um Materialien aus den Archiven der Akademie der Künste ergänzt sind. Denn mit ihnen wird die erinnerungspolitische Spur greifbar, die dem Projekt als Grundsound unterlegt ist.
(…) „Sportler sind wie Soldaten, ein jeder legt sein Bestes ins Trikot. Olympia wiederum ist dazu da, sie zu lehren, ein Glied in einer Maschinerie zu sein.“(1) Dieser Satz aus Ein Sportstück von Elfriede Jelinek drängt sich mir auf, wenn ich Luise Marchands Installation Liquid Company betrachte, die je nach Ausstellungskontext (so auch für die Präsentation im EIKON Schauraum) jeweils neu adaptiert wird. Das „Sportstück“ war u.a. eine Reaktion auf die Freizeitgesellschaft der 1990er Jahre: Schrumpfende Arbeitszeiten und steigende Einkommen ermöglichten im Westen den Aufstieg der Sport- und Freizeitindustrie. Dieser drückte sich etwa im Aufkommen von knallbunter Funktionskleidung aus, gepaart mit einem neuen Fitness- und Markenbewusstsein. Elfriede Jelinek sah in der Freizeitgesellschaft freilich nur eine neue Form der Gehorsamkeit der Massen – oder des Soldatentums. Waren beim Erscheinen von Ein Sportstück die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit zumindest gedanklich noch klar gezogen, so legt Luise Marchand mit ihrem Werk Liquid Company schon im Titel nahe, dass Arbeit heute ein fluider Raum ist. Wie soll man dem Phänomen fotografisch oder filmisch begegnen, wenn sich diese Felder mehr und mehr verwischen und Unternehmen gar insinuieren, Arbeit sei ein einziger Spaß? (…)
(1) Elfriede Jelinek, Ein Sportstück, Reinbek bei Hamburg 1999, hier: S. 42.